Habituation: Zwischen Gelassenheit und Abstumpfung an der Börse 

Erschreckende Nachrichten prasseln in den letzten Wochen nur so auf uns ein. Neben den weltweiten humanitären Katastrophen und potentiellen und tatsächlichen Kriegsnachrichten, ist es auch an der Börse nicht gerade entspannt. Vielleicht stellst du fest, dass du immer gelassener, bisweilen sogar abgestumpft darauf reagierst? Damit bist du nicht allein und das könnte an einem Phänomen liegen, das sich Habituation nennt…  

Was ist Habituation? 

Habituation (vom lateinischen Verb “habituare” = “gewöhnen” oder “an etwas gewöhnt sein”) beschreibt die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich an wiederkehrende Reize zu gewöhnen. Das bedeutet: Wenn wir immer wieder mit denselben (schlimmen) Nachrichten oder Ereignissen konfrontiert werden, reagieren wir mit der Zeit weniger stark darauf. Ursprünglich ist das ein Schutzmechanismus, der uns dabei hilft, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und nicht von einer Flut an Reizen überwältigt zu werden. In der Psychologie spricht man von einer abgeschwächten Orientierungsreaktion – das Neue verliert seinen Schrecken, wir nehmen es kaum noch bewusst wahr. 

Habituation an der Börse: Segen und Fluch 

An der Börse begegnen uns regelmäßig schlechte Nachrichten: Kurseinbrüche, Krisen, Unternehmenspleiten. Zu Beginn der Investorinnenkarriere reagieren viele Anlegerinnen* mit Schock, Angst oder sogar Panik. Doch mit der Zeit – und nach mehreren durchlebten Krisen (Corona, Trumps Zölle, you name it!) – stellt sich oft eine gewisse…Gelassenheit ein. Diese emotionale Abstumpfung kann von Vorteil sein, vor allem wenn du Team “Buy and Hold” bist: Wer sich nicht von jeder Negativmeldung aus der Ruhe bringen lässt, trifft seltener impulsive, oft teure Fehlentscheidungen und bleibt seiner Strategie treu.

Doch die Medaille hat eine Kehrseite. Wer sich zu sehr an schlechte Nachrichten gewöhnt, läuft Gefahr, echte Risiken zu unterschätzen. Das kann dazu führen, dass Warnsignale ignoriert werden – etwa, wenn sich fundamentale Probleme in einem Unternehmen oder einer Branche abzeichnen, oder wenn sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gravierend verschlechtern. Die Börsengeschichte zeigt: Wer in der Finanzkrise 2007/08 oder während der Corona-Pandemie die Risiken unterschätzte, musste teils schmerzhafte Verluste hinnehmen. Auch vor der Zinswende 2022/23 haben viele Anlegerinnen steigende Zinsen als unwahrscheinlich abgetan, da wir zuvor viele Jahren der Nullzinspolitik hatten – und wurden prompt von den Folgen überrascht. 

Wie kannst du dich schützen? 

  • Selbstreflexion: Frage dich regelmäßig: Reagiere ich wirklich noch angemessen auf neue Informationen – oder bin ich schon „abgestumpft“? Ein Tagebuch über eigene Gedanken und Entscheidungen kann dir helfen, Muster zu erkennen und gegebenenfalls gegenzusteuern.
  • Diversifikation: Streue deine Anlagen breit über verschiedene Branchen, Regionen und Anlageklassen. So bist du weniger anfällig für spezifische Risiken1 
  • Regelmäßige Portfolio-Checks: Überprüfe dein Depot mindestens einmal im Jahr kritisch. Gibt es Positionen, die du nur aus Gewohnheit hältst? Sind die ursprünglichen Investmentthesen noch intakt? 
  • Externe Impulse: Hole dir regelmäßig eine zweite Meinung – etwa durch unabhängige Finanzblogs, Podcasts oder Gespräche mit anderen Anlegerinnen. Außenstehende sehen oft, was man selbst übersieht. 
  • Wissen erweitern UND bewusster Medienkonsum: Informiere dich über wirtschaftliche und politische Entwicklungen. Wer Zusammenhänge versteht, kann Risiken besser einschätzen und bleibt handlungsfähig.2 Ab und zu eine Pause vom Dauernewsfeuer tut auch gut und sorgt dafür, emotionale Erschöpfung und Abstumpfung zu vermeiden. Ein „News Detox“ bedeutet kein Desinteresse – sondern Selbstfürsorge und schützt deine Empathie. Außerdem kannst du nach einer Nachrichten-/Social Media-Pause Informationen wieder klarer und bewusster verarbeiten.

Fazit 

Habituation ist ein zweischneidiges Schwert: Sie hilft uns, an der Börse Ruhe zu bewahren – doch sie birgt auch die Gefahr, dass wir abstumpfen. Was uns emotional schützt, kann gleichzeitig in gefährliche Gleichgültigkeit kippen – gegenüber Krisen, Kriegen und menschlichem Leid, etwa in Gaza, der Ukraine oder anderen Konfliktregionen. Wer sich der eigenen Gewöhnungseffekte bewusst ist und sie regelmäßig hinterfragt, bleibt klarer im Denken – und trifft bessere Entscheidungen. 
Deine wichtigste Investition ist und bleibt: ein wacher, mitfühlender Verstand.  

 

* Wegen der besseren Lesbarkeit benutzen wir nur die weibliche Form. Alle Menschen sind explizit mitgemeint.

1 https://www.boerse-in-pink.de/7-tipps-risiko-an-der-boerse-zu-minimieren/

2 https://extraetf.com/de/news/etf-news/die-3-phasen-der-borsenpsychologie-wie-anleger-ihre-emotionen-besser-kontrollieren

 
Previous Article

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert